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Große Worte – nichts dahinter?

April 15, 2013

KISS.

Schon die Aufforderung an Werbetreibende, ihre Inhalte kurz, simpel und einprägsam für den Konsumenten zu formulieren, scheint zu ausschweifend zu sein, um sie auszuschreiben.

KISS. Keep it short and simple (vgl. Guardian 2002).

Doch ist minimaler Input tatsächlich der heilige Gral bei der Generierung von maximalem Output? Haben Erklärungen, Hintergründe und weiterführende Informationen ausgedient und müssen vereinfachten Darstellungen weichen?

Mit Jean Paul zurück in die Zukunft

Der deutsche Autor Jean Paul beschreibt in seiner Erzählung “Die Taschenbibliothek” (1796) den Nutzen und die Bedeutsamkeit eines kleinen Büchleins, das aus Exzerpten von Exzerpten zu allen erdenklichen Themen der Welt besteht. Der Träger der Taschenbibliothek habe zwar kein gut funktionierendes Gedächtnis mehr, in seinem handlichen Hilfsmittel könne er aber dennoch alles nachschlagen, um das er gefragt werde (vgl. Paul 1796).

Es klingt wie Wikipedia ohne Internetanschluss, wie Google offline; doch Jean Paul hatte von diesen modernen Web-Errungenschaften keine Ahnung. Jean Paul wurde bereits vor 250 Jahren geboren. Und dennoch lässt er mit seiner Erzählung zweifellos Rückschlüsse auf die Technologien und Werbestrategien des 21. Jahrhunderts schließen.

Vom Text zum Wort

Die Minimierung der Textmenge scheint in der heutigen Werbelandschaft ein nötiges Tool zu sein, um Botschaften beim Rezipienten und potenziellen Konsumenten verankern zu können. Ein Rückblick in vergangene Jahrzehnte zeigt jedoch, dass sich diese Praktik erst nach und nach entwickelt hat.

Im Jahr 1950 warb beispielsweise der Automobilhersteller VW mit umfangreichen und textlastigen Editorials für seine Modelle.

Werbung VW 1950

Editorial VW 1950 in “AutoTouring”

1960 ist bereits ein leichter Trend hin zu größeren Bildern und kleineren Textpassagen ersichtlich. Es geht auch inhaltlich nicht mehr um Fakten, Farben und Facetten, sondern um ein Erlebnis, eine Geschichte und eine Markenwelt, die das Produkt begleitet.

VW Werbung 1960

VW Werbung 1960

Im 21. Jahrhundert wird dieser Trend zu seinem vorläufigen Höhepunkt getrieben. Ein mehrspaltiger Begleittext wurde mittlerweile zu einem Slogan umformuliert, der aus nur zwei Worten besteht; das Auto.

VW. Das Auto.

VW Slogan 2013

Mehr ist nicht nötig, mehr ist vielleicht auch gar nicht gewollt. Denn betrachtet man den Konsumenten von heute durch die Augen des Protagonisten in Jean Pauls Erzählung, so scheint jegliche Information eine Überforderung des vermeintlich überlasteten Gehirns zu sein.

Universallösung oder Luxus einzelner Marken?

VW ist nach über 100 Jahren der Unternehmensgeschichte (vgl. Volkswagen 2013) in der vorteilhaften Position, nicht mehr bei jeder Kampagne erklären zu müssen, was ihr Produkt macht, leistet und an Vorteilen mit sich bringt. VW ist eine etablierte Marke, die den Konsumenten ein Begriff ist.

Andere Marken haben hierbei eine schwierigere Ausgangslage, denn der Nutzen ihres Produktes ist möglicherweise noch nicht für den Endkonsumenten ersichtlich und eine Erlebniswelt rund um das Produkt ist noch in weiter Ferne. Demnach brauchen neue, unbekannte oder jene Produkte mit Low Involvement mehr Fakten, mehr Hintergründe und im Endeffekt mehr Text in ihren Kampagnen.

Die Kehrseite der Medaille

Kürzer ist nicht immer besser; zu diesem Schluss kommen sowohl Rezipienten der aktuellen VW-Kampagnen als auch Jean Paul in “Die Taschenbibliothek. Der Slogan “Das Auto” wird von manchen Bloggern und Journalisten als inhaltslos und nicht aussagekräftig abgetan. Zudem sei er das Geld nicht wert, das er in der Entwicklung gekostet habe (vgl. Grundhoff 2007).

Ein ähnliches Urteil lässt sich auch aus der Geschichte rund um die Taschenbibliothek herauslesen. Die Methode, die ihr zugrunde liegt, besteht aus dem Exzerpieren von Exzerpten, was schließlich zu einer stark gekürzten Menge an Informatoinen führt. Doch was nutzt es noch, beispielsweise das Datum eines Ereignisses zu kennen, ohne die zugehörigen Geschehnisse? Die Zusammenfassung einer Begebenheit bedarf es, dass Details weggelassen werden. Im Internet ist das bis zu einem gewissen Grad durch die Verlinkung von Informationen möglich. Schon Jean Paul versah seine Texte beim Verfassen mit einer Art “Hypertextstruktur” (Heidegger 2013), um sich in der Masse von Textpassagen zurechtzufinden und die jeweils benötigten Textsorten und -teile herauszusuchen.

Doch in der realen Welt ist das nur schwer umsetzbar.  Als Konsument kann man sich nicht von einem Plakat zum nächsten klicken, um zu mehr Informationen zu kommen. Ein Plakat muss sämtliche relevanten Informationen beinhalten. Im Fall von VW scheint die Information “VW. Das Auto” auszureichen – denn die Markenwelt um das Produkt hat sich jahrelang etabliert.

Quo vadis?

Wort-Minimalismus hat in der Werbewirtschaft derzeit Hochkonjunktur. Zu einem großen Teil ist dafür die gestiegene Bedeutung der bildlichen Kommunikation verantwortlich – denn ein Bild sagt bekanntlich mehr als 1000 Worte. Doch auch abgesehen davon geht es stets darum, in kürzerster Zeit die Werbebotschaft an den potenziellen Konsumenten zu bringen. Viele Worte stören dabei nur.

Jean Paul schien das bereits vor langer Zeit geahnt zu haben, doch “Die Taschenbibliothek” ist keineswegs ein Manifest für diese Entwicklung. Viel eher kritisiert die Erzählung die Reduzierung des Erlebten auf wenige Worte. Denn der Protagonist kann sich weder auf seine Taschenbibliothek verlassen – da sie nie vollständig sein kann -, noch kann er das aufgeschriebene Wissen effizient im Sinn von logischen Verknüpfungen nutzen. (vgl. Paul 1796). Denn “sein Gedächtnis sei durch das schnelle Hintereinanderlesen von Dingen, die nicht zusammengehörten, ein ausgesogener Acker geworden. […] Jede Minute eine andere Wissenschaft oder ein anderes Geschäft […] zerstöre [sein Gedächtnis]” (Paul 1796).

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Literatur:

Grundhoff, Stefan: Bräsig, doof und uninspiriert. o.O. 2007. Im Internet eingesehen am 7. April 2013.

Guardian Society: English Kiss: Keep it short and simple. o.O. 2002. Im Internet eingesehen am 7. April 2013.

Heidegger, Gerald: “Blitze, die erschüttern und heilen”. Das Wunder von Wunsiedel. o.O. 2013. Im Internet eingesehen am 7. April 2013.

Paul, Jean: Die Taschenbibliothek, o.O. 1796 in: Miller, Norbert (Hrsg.): Vermischte Schriften II. München 1978. S. 769 ff. Im Internet eingesehen am 7. April 2013.

Volkswagen: Geschichte. o.O. 2013. Im Internet eingesehen am 7. April 2013.

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